Vérification de l’ombre
eine Bilderserie von Judith Haman
Öl und Tempera auf Leinwand 70 x 90 cm • Juni 2020
Tempera auf Papier 25 – 30 cm x 25 cm • Mai 2020

Vérification de l’ombre
eine Bilderserie von Judith Haman
Öl und Tempera auf Leinwand 70 x 90 cm • Juni 2020
Tempera auf Papier 25 – 30 cm x 25 cm • Mai 2020
Mein Blick aus dem Fenster zu Corona-Zeiten im April und Mai 2020. Des Nachmittags ist der Sonnenstand so, daß die geradewegs laufenden Menschen auf dem mir gegenüberliegenden Gehweg vor dem Polizeigebäude einen schönen langen Schatten werfen. Entweder kommen sie von links und gehen nach rechts die Straße weiter oder von rechts nach links, je nachdem hängt ihnen ihr Schatten an den Fersen oder er läuft vor ihnen her.
Nach wenigen Tagen installierte die Polizei auf dem Gehweg eine Corona-Testfläche, unbenutzt wurde sie nach drei Wochen abgebaut.
Anmerkungen zum Schatten
„Ein nichtleuchtender Körper kann nur teilweise von einem leuchtenden Körper erhellt werden. Der lichtlose Raum, welcher auf der Seite des nicht beleuchteten Teiles liegt, ist das, was man Schatten nennt. Schatten bezeichnet also im eigentlichen Sinne einen körperlichen Raum, dessen Gestalt zugleich von der Gestalt des leuchtenden Körpers, von der des beleuchteten und von ihrer gegenseitigen Stellung gegeneinander abhängt.
Der auf einer hier dem schattenwerfenden Körper befindlichen Fläche aufgegangene Schatten ist daher nichts anderes als der Durchschnitt dieser Fläche mit dem körperlichen Raum (französisch le solide, also wörtlich dem Soliden), den wir vorher durch den Namen Schatten bezeichneten.
Von dem zuletzt erwähnten Soliden ist nun die Rede in der wundersamen Historie des Peter Schlemihl. Die Finanzwissenschaft belehrt uns hinlänglich über die Wichtigkeit des Geldes; die des Schattens ist minder allgemein anerkannt. Mein unbesonnener Freund hat sich nach dem Gelde gelüsten lassen, dessen Wert er kannte, und nicht an das Solide gedacht. Die Lektion, die er teuer bezahlen müssen, soll, so wünscht er, uns zunutze kommen, und seine Erfahrung ruft uns zu: „Denket an das Solide!““
Berlin, August 1834, Adelbert von Chamisso
„Und ja, der Schatten ist auch eine Metapher für das Unbeachtete, weniger das individuelle und kollektive Unbewußte, vielmehr die gesellschaftlichen Bereiche jenseits der permanenten Beachtung. Wortbildungen wie ‚der Kurschatten‘, ‚das Schattenkabinett‘ oder ‚die Schattenwirtschaft‘ sind nur einige im Sprachgebrauch, die das ansprechen. (…)
In Krisenzeiten ereignen sich dann merkliche Wechsel, die Schattenbereiche rücken in den Fokus, werden beachtet und die schattenwerfenden Subjekte vom Schatten aus bewertet. Sie werden zu Objekten, deren Qualitäten die Schattensubjekte taxieren.
Der nie versiegende Reichtum Schlemihls in dem Kunstmärchen von Adelbert von Chamisso hilft ihm jedoch nicht, aller Reichtum kann dem nicht helfen, der seinen Schatten verkauft hat.
Es ist zwar nicht einsichtig, inwiefern Andere unter seiner Schattenlosigkeit leiden, sein Freund und Diener Bendel hat kein Problem damit, doch seine gesellschaftliche Integrität ist dahin, unerreichbar verschwunden wie sein Schatten.
Täuschung und Gold helfen wenig, ihr Wert wiegt den fehlenden Schatten nicht auf, der Rücktausch mit der Seele wäre ein Verlustgeschäft, bleibt nur das Herumirren, die Erforschung der Welt und Einsamkeit.
Konstruiert die Fiktion durch eine kleine Aufhebung von Realität gerade diese in ihrer Unerbittlichkeit und postuliert sie als unveränderbar, schimmert die fluide Anhänglichkeit des Schattens dagegen voller Hoffnung – es kann noch anders werden.“
Heiner Metzger, Juli 2020